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Eigentlich verstehen wir unseren Blog bei bildungssprit primär als Bildungsblog. Unser Ziel ist es, Impulse für ein gerechtes, inklusives und reflektiertes sowie gleichzeitig zukunftsorientiertes und digitalaffines Bildungssystem zu setzen. Doch morgen jährt sich die Befreiung des Vernichtungslager Auschwitz und damit der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus zum 80. Mal und leider können wir derzeit nicht sagen, wie der darauffolgende runde Jahrestag aussehen wird.
Angesichts aktueller politischer Entwicklungen, sowohl national als auch international, sehen wir uns in der Verantwortung, Stellung zu beziehen. Durch gezielt geschürte Angstszenarien versuchen rechtspopulistische Bewegungen, gesellschaftliche Spaltungen zu vertiefen. Sie konstruieren Bedrohungsnarrative gegen Migranten, Minderheiten und gegen demokratische Institutionen und über Jahrzehnte erarbeitete Grundverständnisse von Werten und Gemeinschaften. Diese Narrative bedrohen das Fundament unserer Demokratie. Wir können und wollen nicht schweigen, wenn rechtspopulistische Bewegungen die Grundwerte einer offenen Gesellschaft systematisch infrage stellen.
Anlass für diesen Beitrag
Derzeit bereite ich meine Klassenauf die Wahlen für den Bundestag und die Hamburger Bürgerschaft vor. Die Lernenden dürfen alle zum ersten Mal in ihrem Leben wählen gehen. Eine Schülerin stellte mir im letzten Unterricht die Frage:
„Was bedeutet Remigration?“
Ihr Gesicht, teilweise mit einem Kopftuch verdeckt, verriet mir, dass sie tiefes Interesse an der Beantwortung dieser Frage hatte. Dabei musste ich als Politiklehrkraft den Beutelsbacher Konsens im Blick behalten. Deshalb erklärte ich ihr das Konzept der Remigration anhand der Ideen des österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner [über diese Person]. um ihr die Ursprünge und Intentionen des Begriffs und den aktuellen Aufdrucken dieses Begriffes auf einigen Wahlplakaten kritisch und klar als das darzulegen, was sie sind, nämlich faschistisch.
Daraufhin sah ich etwas in den Augen meiner Schülerin, was ich in meinen mehr als zehn Jahren Tätigkeit als Lehrkraft noch nie gesehen habe und hoffe, es auch nie wieder sehen zu müssen.
Ich sah Angst in den Augen meiner Schülerin. Angst um ihre Eltern, ihre Familie, ihre Freunde.
Die Furcht in ihren Augen lässt mich auch Tage später nicht los und ist der Anlass dieses Beitrags!
Wer wissen will, was mit dieser Ideologie verfolgt werden soll, kann hier eine kurze Zusammenfassung bekommen, wer darauf verzichten kann, lässt das Dropdown auch gerne einfach geschlossen. 😉
Nach der Ideologie von Martin Sellner und aller die ihm hierin zustimmen, würden solche Eltern systematisch ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden: Ihnen würden Arbeitserlaubnisse entzogen, Sozialleistungen gestrichen und ein Aufenthaltsrecht verwehrt, was sie de facto zur Ausreise zwingen soll. Die Tochter, mit der deutschen Staatsbürgerschaft ausgestattet, würde vor die Wahl gestellt, entweder vollständig zu “assimilieren” – was eine komplette Abkehr von der Herkunftskultur bedeutet – oder mit ihrer Familie das Land zu verlassen. Ziel von Remigration von Sellner ist eine ethnisch “homogene” Gesellschaft, in der Menschen ohne deutschen Hintergrund systematisch ausgegrenzt und zur Ausreise gedrängt werden, wobei die persönlichen Biografien, Lebenswege und individuellen Integrationsleistungen vollständig negiert werden.
Ich bin zwar kein Zeitzeuge, aber...
Ich bin geboren in der Nähe von Berlin, im heutigen Brandenburg. Meine ersten Lebensjahre wuchs ich also in der damals noch existierenden DDR auf. Sicherlich kann ich mich nicht an allzu viel erinnern, und niemand würde mich als Zeitzeugen bezeichnen. Doch durch das Verhalten meiner Eltern und ihre Antworten auf meine kindlichen Fragen sowie ihre Reaktionen auf Geschehnisse und alltägliche Situationen habe ich zumindest einen Eindruck davon gewonnen, was es bedeuten kann, in einer Diktatur zu leben.
Ihre vorsichtigen Erklärungen und die Resignation, die manchmal in ihren Stimmen mitschwang, prägten mein Verständnis dafür, wie sehr Freiheit, Demokratie und das Recht auf eine eigene Meinung keine Selbstverständlichkeit sind. Diese prägenden Erfahrungen haben mich gelehrt, wie wichtig es ist, die Demokratie nicht nur zu schätzen, sondern aktiv für sie einzutreten.
Zudem sind sie ein entscheidender Faktor dafür, worum ich mich für Politik (Sozialwissenschaften) als eines meiner Unterrichtsfächer entschieden haben
Handeln für eine gerechte Zukunft
Wir stehen an einem historischen Wendepunkt, an dem die Grundwerte unserer offenen Gesellschaft nicht nur in abstrakten Diskussionen, sondern in der gelebten Wirklichkeit bedroht sind. Rechtspopulistische Ideologien, verkörpert durch Konzepte wie die Remigrationsideen von Martin Sellner, reihen sich ein in eine beunruhigende Kette von Angriffen auf Vielfalt, Gleichheit und Gerechtigkeit.
In den Vereinigten Staaten etwa propagiert Donald Trump Pläne zur Abschaffung von Diversity-, Equity- und Inclusion-Programmen – Initiativen, die für eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft unverzichtbar sind. Hinzu kommen diskriminierende Einwanderungserlasse und Bestrebungen zur Einschränkung von Bürgerrechten, die gezielt Menschen ausgrenzen, basierend auf ihrer Herkunft, Hautfarbe oder sexuellen Identität.
Die anstehenden Wahlen zum Bundestag und zur Hamburger Bürgerschaft stehen bevor, und die Wahlplakate prägen bereits das Stadtbild. Besonders in Hamburg, der weltoffenen Metropole, die als „Tor zur Welt“ bekannt ist, wird die Bedeutung einer offenen und toleranten Gesellschaft deutlich. Es ist wichtig, dass wir nicht nur diese Werte schätzen, sondern sie auch aktiv vorleben.
Gerade unseren Schülerinnen und Schülern müssen wir zeigen, dass wir alle in der Verantwortung stehen, für eine demokratische und solidarische Gemeinschaft einzutreten.
Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist ein fragiles Gut, das jeden Tag aufs Neue verteidigt und mit Leben gefüllt werden muss. Denn Gleichgültigkeit ist kein neutraler Zustand – sie ist der Nährboden, auf dem Extremismus gedeiht, die Einladung an all jene, die Spaltung und Hass säen wollen. Zivilcourage darf nicht als bloße Option betrachtet werden. Sie ist die Bürgerpflicht einer jeden freien Gesellschaft, das moralische Fundament, auf dem wir stehen. Ohne sie droht die Demokratie zu erodieren.
Solidarität ist der Grundpfeiler, der unsere Gemeinschaft zusammenhält. Dabei kennt die Würde des Menschen keine Herkunftsgrenzen – sie ist universell und unverhandelbar. Integration bedeutet nicht das Aufgeben von Identität, sondern den respektvollen Austausch auf Augenhöhe. Unsere wahre Stärke liegt in der Vielfalt, in der gegenseitigen Anerkennung und im gemeinsamen Streben nach einer besseren Zukunft.
Doch all dies verlangt Handeln. Passives Beobachten reicht nicht aus. Es ist unsere Aufgabe, rechtsextremen Narrativen entschlossen entgegenzutreten. Bildung und Aufklärung sind dabei unsere schärfsten Waffen, die Schlüssel zu einer Gesellschaft, die immun ist gegen die Versuchungen von Hass und Intoleranz. Nur durch aktive Partizipation können wir unsere demokratischen Institutionen stärken und weiterentwickeln.
Fazit
„Nie wieder” ist nicht nur eine Mahnung aus der Vergangenheit – es ist eine Aufforderung für die Gegenwart. Jede/r Einzelne trägt Verantwortung, Ausgrenzung, Rassismus und menschenverachtende Ideologien zu bekämpfen. Demokratie lebt vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger – heute mehr denn je.
Die hier beschriebenen Entwicklungen sollen unmissverständlich klarmachen, wie zerbrechlich demokratische Errungenschaften sein können. Es liegt an uns, diesen Angriffen mit Entschlossenheit und Zuversicht entgegenzutreten. Die Geschichte zeigt uns, dass Stillstand und Resignation keine Optionen sind, wenn Freiheit, Gleichheit und Würde auf dem Spiel stehen.
Es ist unsere Aufgabe, die Werte der Demokratie nicht nur zu verteidigen, sondern sie aktiv und sichtbar zu leben, für eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt und Vielfalt als ihre wahre Stärke erkennt.
„Nie wieder ist jetzt”! Es liegt in unserer Hand, ob wir unsere Gesellschaft weiterentwickeln oder zulassen, dass sie sich spaltet. Die Demokratie ist keine Selbstläuferin. Sie braucht uns alle, um zu bestehen. Lassen wir sie nicht im Stich!
Disskusionsanstoß - diesmal nicht!
Auf den üblichen Diskussionsanstoß soll diesmal bewusst verzichtet werden. Unsere klare Haltung zur Demokratie und einer offenen und vielfältigen, bunten, queeren, inklusiven und gerechten Gesellschaft stellen wir nicht zur Diskussion!
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